THEORIE: In der Psychologie, der Bindungstheorie und Sozialpädagogik ist man sich heutzutage einig: die Eltern (bzw. Betreuungspersonen) sollten stets prompt, angemessen und feinfühlig auf die Signale des Kindes eingehen.
Das Baby kommt völlig hilflos auf die Welt. Es kann sein Unwohlsein lediglich durch seine Körpersprache, seine Laute und letztendlich das Schreien ausdrücken. Wenn das Baby innerhalb der ersten Lebensmonate die Erfahrung macht, dass seine Bedürfnisse und Hilferufe wahrgenommen und darauf liebevoll reagiert wird, stärkt dies sein Selbstwirksamkeitsgefühl (dh. ein Gefühl von “ich kann etwas erreichen” “ich kann mich ausdrücken und dadurch etwas beim Gegenüber bewirken”) nachhaltig.
Die fachliche (und zum größten Teil gesellschaftliche) Ansicht, man solle ein Baby nicht schreien lassen, ist in Deutschland noch nicht all zu lange etabliert. Während der Diktatur des National Sozialismus erschien ein Buch über die “deutsche Mutter” (dessen Inhalt den Propaganda Zwecken des NS diente und sich an den Erziehungsvorstellungen von A.Hitler orientierte), welches die Mütter dazu aufforderte den Willen ihres Kindes zu brechen, indem man es schreien lässt. Die Angst vor Verweichlichung und dem Verwöhnen der Kinder wurde durch dieses Buch geschürt. Sprüche wie zB. “Schreien stärkt die Lunge”, welche aus diesem Buch stammten, werden auch heute noch von einigen Menschen genutzt ohne deren Wurzeln zu kennen.
Immer wieder gibt es zwischen (jungen) Eltern und ihren eigenen Eltern oder Großeltern Differenzen, was die Erziehung von Kindern angeht. Wichtig dabei ist zu verstehen, in welchem Kontext die jeweiligen Generationen groß geworden ist und was für sie über die längste Zeit ihres Lebens hinweg als “normal” galt. Für viele ältere Menschen (die ihre Kinder noch in der Vorstellung, man dürfe das Kind nicht verwöhnen in dem man auf jedes Schreien eingeht, erzogen haben) ist es eine Kränkung zu erleben, dass die Kinder oder Enkel so ganz anders auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen. Ich glaube mehr als eine verbale Konfrontation mit den heutigen Erkenntnissen kann das einfache “Vorleben” bewirken. Wenn die Eltern und Großeltern erleben, wie liebevoll und geduldig die Eltern “von heute” auf das Schreien des Kindes eingehen, wird dies womöglich viel mehr bewegen als jedes Wort.

PRAXIS: Ich habe mich erst kürzlich mit Müttern meiner Generation darüber unterhalten, was es mit einem als Mutter macht, wenn das eigene Baby schreit. Wir alle konnten aus unserer Erfahrung sagen, dass das Schreien ein so starkes, intuitives Gefühl in einem auslöst, welches einen veranlasst alles stehen und liegen zu lassen um das Baby in den Arm zu nehmen, mit ihm zu reden, es zu wiegen und zu beruhigen. Wie muss es wohl für unsere Großeltern-Generation gewesen sein, diese Intuition auch zu spüren, jedoch so sozialisiert und darauf “getrimmt” worden zu sein, das Baby bloß nicht zu verhätscheln in dem man liebevoll auf das Schreien reagiert? Wie gut, dass sich heutzutage an diesem Denken zum größten Teil in der Gesellschaft etwas verändert hat und man weiß, dass das Kind lediglich diese Ausdrucksform hat, um zu zeigen, dass es ihm nicht gut geht.
Natürlich kommt man mit der Anforderung an sich selbst, stets liebevoll und prompt auf die Signale des Kindes zu reagieren, auch an seine Grenzen. Es wird Nächte geben, in denen man aus Hilflosigkeit mit weint oder so verzweifelt ist, dass man selbst schreien könnte. Wichtig ist, dass man sich diese zeitweilige Hilflosigkeit und Verzweiflung (vor allem bei langanhaltendem Schreien) eingesteht und rechtzeitig (dh bevor man wirklich an seine Grenze der Geduld kommt) reagiert. Es ist OK, wenn man das eigene Baby auch mal dem Partner, den Eltern, einer Freundin oder sonst einer nahestehenden Person schreiend übergibt, weil man einfach nicht mehr kann. Es ist OK, wenn man das Baby auch mal in sein Bettchen legt und einfach kurz aus dem Zimmer geht um tief durch zu atmen, bevor man die Geduld verliert. In solchen Momenten liebevoll zu sich selbst zu sein und für sich zu sorgen, damit man anschließend dem Baby wieder geduldig und feinfühlig begegnen kann, gehört meiner Meinung nach dazu, eine gute Mutter / Vater zu sein!